Ein angewandtes Beispiel:

Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke

Im Gespräch mit Bekannten ist spontanes Interesse geweckt, eine Wette abgeschlossen und bereits der Termin für das Aufsage-Treffen bestimmt.
Damit war die Zeit für das Lernen von Februar bis Dezember begrenzt.
Und sie hätte sogar kürzer sein dürfen.

Eine Mammut-Aufgabe, die zeigt: recht eigentlich ist sie nur „im Gespann“ zu bewältigen. (Zu häufig gab es da wie dort Durchhänger.)

Probleme:
Die ungewohnte Sprache mit ungebräuchlichen Wörtern und eigenwilligem / eigentümlichem Satzbau.
Wie beim Chorsingen oder Flötespielen: zum Festigen des Zusammenhangs oder Erlernen schwieriger Stellen auch "von hinten her aufrollen“.

Anknüpfpunkte / Verbindungen / Weiterleitungen finden – auch wenn der Text einzelner Abschnitte sitzt – so können schwierige Stellen behalten werden.

 

Entstehung
Im Sommer 1788 besuchte Schiller – laut Caroline von Wolzogen, Schillers Schwägerin und Biografin – während eines Aufenthaltes in Rudolstadt mehrfach eine Glockengießerei vor den Toren der Stadt.
Schiller teilt im September 1797 Goethe mit, er sei  „jetzt an mein Glockengießerlied gegangen und studire seit gestern in Krünitz’ Encyklopaedie, wo ich sehr viel profitire. Dieses Gedicht liegt mir sehr am Herzen...“
Im Jahr 1798 geschieht nichts weiter mit diesem Projekt.
Im September 1799 hat er es wieder aufgenommen und schnell abgeschlossen.

Das Lied von der Glocke erregte bei den Zeitgenossen nicht nur Bewunderung, sondern auch Spott: Caroline Schlegel schreibt noch 1799 an ihre Tochter: „Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen...“
Zu keinem Gedicht gibt es mehr Interpretationen und Kommentare – von der ernsthaften Deutung bis zur pornografischen Verballhornung. Mehr als 100 Parodien werden erwähnt: über Drechsler, Brauer; Kaffee, Wurst.
Vielleicht ein Beleg für die weite Verbreitung, dafür dass „Die Glocke“ Volksgut wurde?
Hans-Magnus Enzensberger meint allerdings, „ganz darauf verzichten zu sollen...“
Vielleicht müssen wir sie uns aber nur neu erwerben, um sie zu besitzen!

 

Dem Gedicht steht eine Motto voran – wie es ähnlich auf vielen Glocken stehen mag.

vivos voco – die Lebenden rufe ich
mortuos plango – die Toten begklage ich
fulgura frango – die Blitze breche ich
Aus der letzten Zeile spricht der alte Volksglaube, dass Glockenläuten Blitze vertreibe oder, allgemein, vor Unheil bewahre.

Jede Glocke trägt ihren Namen: So ist zum Beispiel die zweite Glocke der Eberner Pfarrkirche die Marien-Glocke: „Ave Maria! Magnificat anima mea dominum. Ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes“  steht auf dem „Wappen“; auch dass Anton Klaus aus Heidingsfeld die Glocke 1901 gegossen hat, ist dort eingeprägt.

Manches erscheint uns Heutigen überzogen: Der Mann muss hinaus ins feindliche...
oder mit züchtigen, verschämten Wangen; oder rühret oh’n Ende die fleißigen Hände...; oder ist von ihrem Gruß beglückt...
Fein differenziert er zum Beispiel hier: Die Mutter waltet, die Fremde schaltet – und auch noch liebeleer... oder: Der Mann muß hinaus... aber: der Vater von des...

Doch vielleicht wird im bewussten Abgleich deutlich, wieviele Haltungen, Sitten, Gebräuche wir aufgegeben, verloren haben!

 

Zehn gleichartig geformte achtzeilige Strophen wechseln mit neun unterschiedlich langen Textabschnitten, die mit allgemeinen Betrachtungen über das menschliche Leben inhaltlich jeweils an die Achtzeiler anschließen.

 

Den Aufbau im Einzelnen zeigt diese Übersicht:

Meister- oder
Arbeitstrophen
 

Reflexions- oder
Betrachtungsstrophen

 

1. Blick auf die für den Glockenguß vorbereitete Form.

2. Zubereitung der Glockenspeise.

3. Reinigung und Verflüssigung des Metallgemischs.

 

4. Prüfen des Metallgemischs.

 

5. Beginn des Glockegießens

 

6.Erwartungsvoller Abschluß des Füllens der Glockenform

7. Abkühlen der Glocke;        Arbeitspause

8. Zerschlagen des Formenmantels

9.Blick auf die fertige Glocke

 

10. Emporziehen der Glocke: „Friede         sei ihr erst Geläute!“

 

 

1. Sinngebung der Arbeit durch Betrachtung

2. Die Glocke gibt stets Zeugnis vom Wandel menschlicher Schicksale.

 

3. Die Glocke begrüßt den Täufling; der weitere Lebensweg bis zur ersten Liebe.

4. Die Glocke läutet zur Hochzeit und besiegelt die Rollenverteilung der Ehepartner.

5. Die Glocken läuten bei verheerender Feuersbrunst.

 

6. Das Grabgeläute verkündet den Tod der Frau.

7. Feierabend in einer friedlichen Bürgerwelt.

8. Sturmgeläut: die Glocken verkünden zerstörerischen Umsturz und Gewalt.

9. Taufe und Bestimmung der Glocke: Sie lehrt die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Aus: Wolf Segebrecht – Was Schillers Glocke geschlagen hat – M: Hanser, 2005

Spruchweisheit in der Glocke – sicher nur unvollständig

Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß, soll das Werk den Meister loben...
Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort.
Errötend folgt er ihren Spuren
O! daß sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe!
Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet.
Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben
Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau
Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten,
und das Unglück schreitet schnell.
Wehe, wenn sie losgelassen...
Alles rennet, rettet, flüchtet...
Er zählt die Häupter seiner Lieben
Meister muß sich immer plagen
Denn das Auge des Gesetzes wacht.
Heil’ge Ordnung, segenreiche ...
Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis,...
Wenn die Glock’ soll auferstehen, muß die Form in Stücke gehen.
Der Meister kann die Form zerbrechen...
Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild gestalten,
Wenn sich die Völker selbst befrei’n, da kann die Wohlfahrt nicht gedeih’n.
Da werden Weiber zu Hyänen
Nichts Heiliges ist mehr...
Gefährlich ist’s den Leu zu wecken,...
Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.